Pferdekuss by Christine Lehmann

Pferdekuss by Christine Lehmann

Autor:Christine Lehmann
Die sprache: de
Format: mobi
veröffentlicht: 2011-12-20T23:00:00+00:00


15

Um halb elf hatte Gott ein Einsehen und ließ uns gehen. Der General wollte ins Bett. Auch Siglinde, die um sechs wieder rausmusste, hatte schon ganz kleine Augen. Meine Mutter war hingegen gar nicht müde und blieb in der offenen Küchentür stehen, um Mimi Mut zuzusprechen, die den Abwasch aber schon halb hinter sich gebracht hatte.

»Was machen Sie denn mit den Resten?«

Ich zupfte meine Mutter am Blusenärmel hinaus, ehe sie sich den kalten Broccoli einpacken ließ. Siglinde brachte uns dann noch über den dunklen Hof. Am Durchgang zum Parkplatz gab sie uns die Hand.

Emma stand mittlerweile mutterseelenallein auf dem immerhin von einer Laterne beleuchteten Parkplatz. Die anderen waren schon alle abgefahren. Ich führte meine Mutter über den Kies – nachts sah sie nicht mehr so gut – und machte ihr die Tür auf. Vom roten Leder meines Sitzes musste ich ein paar Ebereschenblätter fegen, die der Baum über uns hatte fallen lassen, bevor ich mich hinters Steuer setzte. Inzwischen war es nicht mehr nur kühl, es war eisig. Ich hätte eine Jacke mitnehmen sollen. Ich hätte auch das Verdeck zumachen können. Aber für die paar Minuten bis in die Wieselstraße lohnte sich das nicht.

Emma war alt und hatte ihre Mucken. Der Motor hustete. Schon beim rückwärts Ausparken hätte mir auffallen müssen, dass mit der Bremse etwas nicht stimmte. Als ich den Weg zur Landstraße hinabrollte, etwas zu schnell, weil fröstelnd verkrampft und damit Emma sich freihustete, und als ich dann bremsen wollte, bevor ich auf die Landstraße bog, da musste ich pumpen und hatte keine Bremse mehr.

Von rechts eierte ein Scheinwerfer herbei. Dem würde ich genau vor den Bug rollen. Ich war schon zu dicht an der Straße und zu schnell, um Emma herumzureißen und in einen Koppelzaun lenken zu können. Ich war praktisch schon auf der Straße und trat das Gaspedal ins Bodenblech.

Meine Mutter kiekste. Rechts schrillten Reifen. Emma sprang über die Straße, schlug mit der Schnauze bös in die Wiese gegenüber, hoppelte über Maulwurfshügel, ratschte unters Gezweig eines Apfelbaums und krachte gegen den Stamm. Die Zweige brachen sich an der Kante der Windschutzscheibe und schlugen mir kleine Äpfel und Blätter ins Gesicht. Ich nehme an, meiner Mutter auch.

Die Bremse hatte nicht funktioniert. Ich war wie gelähmt von Erinnerung. »Die Bremse!«, sagte Todt, nein, schrie er, und schon schossen wir über die Wiese in den Birnbaum.

Und meine Mutter? Ich sah ihre Augen schon durchstochen von Ästen, das Figürchen geköpft. Es war viel Blattwerk zwischen uns, das ich beiseitekämpfte. Sie saß ganz still, Holzknöchlein im Dutt. Aber die Lippen bewegten sich. Sie betete, also lebte sie.

»Du hättest uns umbringen können, Kind!«

»Die Bremse hat nicht funktioniert. Bist du verletzt? Tut dir was weh? Nicht bewegen. Warte, ich hole dich raus.«

Ich schlug mich durchs sperrige Gezweig auf den Rücksitz und hinten übers Heck hinaus. Dann tauchte ich wieder unter den Apfelbaum und wuchtete die Beifahrertür auf. Meine Mutter fiel mir entgegen. Ich zog sie unter dem Geäst hervor und stellte sie auf die bucklige Wiese. Sie stand. Sie probierte Beine und Füße. Es funktionierte.



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